Entlang der Fluchtroute über das Mittelmeer
Vom arabischen Frühling nach Lampedusa zur Charta von Palermo und dem Recht auf die freie Wahl des Wohnortes. Ein Reisebericht.
Anlässlich des zweiten Jahrestages der Flüchtlingstragödie von Lampedusa organisierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 29. September bis zum 3. Oktober 2015 eine Informations- und Bildungsreise zum Thema Migration und Grenzregime. An dieser Reise nahmen verschiedene Abgeordnete von Bund und Länder sowie Mitglieder der Fraktionsvorsitzendenkonferenz der LINKEN teil. Mit Aufenthalten in der tunesischen Hauptstadt Tunis und der sizilianischen Stadt Palermo führte diese Reise die Teilnehmenden entlang einer der zentralen Fluchtrouten von Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa: Das zentrale Mittelmeer.
In Tunis gaben Gespräche mit dem deutschen Botschafter Dr. Andreas Reinicke, dem Vertreter der UNHCR, Nabil Benbekhti und dem Staatsminister für Migration und soziale Integration, Belgacem Sabri, einen ersten Überblick über die Situation in Tunesien und die politischen Ansätze der zuständigen Stellen.
Tunesien wird als einziger nordafrikanischer Staat immer wieder für seine politische Stabilität in einem demokratischen System gelobt. Das Land hat aber seit mehreren Terroranschlägen und dem daraus folgenden Einbrechen der ökonomisch wichtigen Tourismusindustrie mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen und sucht u.a. mit einem Visa-Abkommen für Akademiker/innen Lösungen für eine geordnete Emigration gut ausgebildeter Nachwuchskräfte.
Tunesische Staatsangehörige, die auf nicht-offiziellem Weg das Land verlassen, begehen nach tunesischem Recht eine Straftat, die auch mit Gefängnisstrafen geahndet wird. Damit ist Tunesien als Transit- und Auswanderungsland nur ein Nebenschauplatz – die aktuellen Fluchtrouten verlaufen vor allem durch Libyen nach Italien. Dem UNHCR zufolge leben nur 900 registrierte Flüchtlinge in Tunesien.
Gemeinsam mit der Europäischen Kommission vereinbarte das Land eine so genannte «Mobilitätspartnerschaft», die durchaus als Ausweitung der Schengen-Grenzen verstanden werden kann: So sollen, den beiden EU-Kommissionsvertreterinnen Kati Leinonen nd Ilhara Mussetti zufolge, die wir in Tunis trafen, nicht nur Tunesier/innen, sondern auch Menschen, die über Tunesien in die EU wollen, hiervon abgehalten bzw. hierhin wieder zurückgeschoben werden können.
Dabei wird die EU auch von der International Organisation for Migration (IOM) unterstützt, die sich um MigrantInnen in Nordafrika kümmert und sie unter anderem auch über die Gefahren irregulärer Migration informiert.
Während die offiziellen Stellen vor allem mit dem Management und der Verhinderung von Migration befasst sind, boten Termine mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie das Maison de droits d´Asyl und das tunesische Forum für soziale und ökonomische Rechte (FTDES) die durch engagierte Unterstützung MigrantInnen und Illegalisierte darin stärken möchten, selbst für ihre Rechte einzutreten sowie über sichere Wege nach Europa informieren und so einen realistischeren Blick auf die Folgen der offiziellen Migrationspolitik boten.
Die Folgen der nur illegal möglichen Ausreise aus Tunesien machte ein sehr emotionaler Termin mit einigen Müttern der rund 500 tunesischen Jugendlichen und jungen Männern deutlich, die 2011 nach Europa aufbrachten und seither als vermisst gelten. Die Berichte der Frauen und deren Unwissen darüber, ob der eigene Sohn den Weg über das Mittelmeer geschafft hat, in Italien oder bereits bei der Überfahrt «verschwand», ließ niemanden unberührt und unterstrich die linke Forderung nach legalen und sicheren Einreiserouten nach Europa.
Wie einfach dies sein könnte, machte die Überfahrt von Tunis nach Palermo mit der Fähre deutlich. Während für Personen mit den richtigen Papieren dieser Weg komfortabel in einer Nacht auf der Fähre möglich ist, war allein die Vorstellung eines kleinen Bootes im nächtlich tosenden Dunkel des Mittelmeeres unbegreiflich. Mehr als 2500 Menschen haben im letzten Jahr auf diesen Weg ihr Leben verloren.
Die Härte, mit der die Europäische Union die Geflüchteten nach der Überfahrt empfängt, zeigte sich beim Besuch der verschiedensten Stationen des italienischen Aufnahme- und Abschiebesystems:
Als eine der ersten Delegationen besuchten wir gemeinsam mit dem Präfekten von Trapani, Leopoldo Falci, die Abschiebehaftanstalt CIE in Trapani. Dort wurden uns zwischen sonnengelben Mauern die Bastelarbeiten der Häftlinge präsentiert, während die verzweifelten Insassen einigen Abgeordneten von Misshandlungen und Suizidversuchen berichteten. In einem von Insassen gestalteten Bild an der Wand wurde dieser Widerspruch spürbar: In silberner Glitzerschrift stand dort auf Englisch: «Der Tod ist sicher, das Leben ist es nicht.»
Auch während des Besuchs im Übergangszentrum CAS in Trapani, wo über 200 Menschen auf die Entscheidung über ihr Asylgesuch teilweise mehrere Jahre warten, war der Widerspruch zwischen offizieller Rhetorik und den Berichten der Flüchtlinge augenscheinlich Während erstere diverse Aktivitäten und geordnete Prozesse lobten, beklagten die Bewohner die zum Teil seit Jahren dort auf ihre Papiere warten die fehlenden Beschäftigungsmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit.
Einen erfreulichen Gegensatz dazu bot die dezentrale Unterbringung von MigrantInnen in Palermo, wo sie in einer Gemeinschaftswohnung selbstorganisiert zum kulturellen Leben der Stadt beitragen können. Ähnliches erfuhren wir auch beim gemeinsamen Abendessen im migrantisch geführten Multikulturellen Zentrum Moltivolti, in dem es neben dem Restaurantbetrieb auch einen Coworking space gibt, in dem ehrenamtliche Helfer/innen und Geflüchtete gemeinsame Projekte entwickeln.
Der 3. Oktober und damit letzte Tag der Delegationsreise war für alle Teilnehmenden ein besonderer Tag. Schließlich war die Erinnerung an die Katastrophe von Lampedusa im Jahr 2013 Anlass, die Reise zu diesem Zeitpunkt zu unternehmen. Im Rahmen einer von der RLS organisierten öffentlichen Veranstaltung im kirchlichen Zentrum St. Chiara erinnerten wir an die menschenunwürdigen Auswirkungen des Grenzregimes der Europäischen Union im Mittelmeerraum. Dabei bekamen wir spannende Einblicke von Vertretern der NGOs Borderline Sicily und Emerganza, die sich sehr kompetent der kritischen Beobachtung von Polizei und Justiz im Umgang mit Migranten widmen sowie um die medizinische Versorgung von Flüchtlingen kümmern.
Erasmo Palazzotto von der Sinistra Ecologia Libertà (2009 gegründete linksgerichtete und ökologische italienische Partei) und Yodit Abraha, Leiterin eines kommunalen Flüchtlingszentrums in Palermo, die vor etwa zehn Jahren selbst aus Eritrea nach Italien kam, machten im Gespräch mit dem Leiter des Zentrums für Internationalen Dialog der RLS, Wilfried Telkämper und dem Fraktionsvorsitzenden der Landtagsfraktion Sachsen Anhalts der LINKEN, Wulff Gallert, deutlich, dass auch zwei Jahre nachdem fast 400 Menschen vor Lampedusa ertranken, die Ursachen der derzeitigen Flüchtlingssituation nicht gelöst seien und die Europäischen Union keine geeigneten Antworten darauf habe. Deutlich formulierten die Podiumsteilnehmer/innen linke Forderungen nach legalen und sicheren Fluchtwegen nach Europa, legalen Möglichkeiten der Arbeitsmigration sowie der juristischen und sozialen Gleichstellung von Flüchtlingen.
Im Anschluss war die Delegation ins Rathaus von Palermo zu einem Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt, Leoluca Orlando, eingeladen. Orlando hat es nicht nur geschafft, die sizilianische Mafia aus der kommunalen Verwaltung von Palermo zu verdrängen und selbst Bürgermeister zu werden. Er hat mit der Charta von Palermo auch ein radikales Manifest gegen Ausgrenzung und für eine bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen entwickelt sowie dies in der Stadt Palermo mehrheitsfähig gemacht. Getragen wird die Charta auch vom «Rat der Kulturen», der sich am Abend zu einer außerordentlichen Versammlung traf, bei der die deutsche Delegation in ihrem letzten Termin gemeinsam mit gewählten Vertreter/innen aller in Palermo aktiven Migrantengruppen ein anregendes Gespräch über die deutsche Rolle in der europäischen Migrationspolitik führte und Möglichkeiten wie auch Grenzen linker Ansätze diskutierte.