Der Kampf der Landarbeiter*innen in Italien

Der Text dieser Broschüre wurde im Laufe des vergangenen Jahres 2019 geschrieben, also bevor das Thema Corona weltweit die Nachrichten beherrschte. Ist der Text deshalb aus der Zeit gefallen?

Dieser Text erzählt von den Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft, von Ausbeutung und deren strukturelle Ursachen. Er erzählt von den Lebensbedingungen jener, deren Hände die Produkte ernten, die in unseren Mündern landen; jene, die oft keinen Zugang zu fließendem Wasser haben, um die von der Arbeit schmutzigen Hände zu waschen und kein festes Dach über dem Kopf, um sich auszuruhen nach Stunden unter der heißen Sonne. Von Menschen, die sich von alldem nicht entmutigen lassen, die sich in Barackensiedlungen organisieren und gemeinsam über lange Feldwege marschieren, um vor und in Institutionen zu protestieren.

Corona hat an diesen Umständen am äußersten Rand unserer Gesellschaft wenig geändert. Zum Teil sind die miserablen Arbeitsbedingungen noch gefährlicher geworden, die verheerende gesundheitliche Lage droht zur Katastrophe zu werden und die menschenunwürdigen Lebensbedingungen werden lebensbedrohlich, kurzum: schlimmer geht immer. Jedoch zeigt der Text in erstaunlicher Klarheit auch, dass Themen, die während der Pandemie an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen haben – Gefahr für Gesundheit durch fehlende Schutzausrüstung am Arbeitsplatz oder Risiken für soziale und physische Gesundheit in ungenügenden Wohnverhältnissen – auf den Feldern schon lange im Zentrum der Kämpfe für ein besseres Leben stehen. Daher wundert es eher, dass die seit vielen Jahren bestehenden Missstände in der landwirtschaftlichen Produktion erst heute verstärkt ihren Weg in die in die öffentliche Debatte finden. Mit der Berichterstattung über „systemrelevante Arbeit“ wird auch der Landwirtschaftssektor stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Landwirtschaftliche Betriebe werden „Corona-Hotspots“, vom Spargelhof bis zum Schlachthaus geht Gefahr aus, da sich dort das Virus schnell ausbreitet, Lieferketten unterbrochen werden und Nahrungsmittel vergammeln. Die Debatte über Sinn und Unsinn einer globalisierten Nahrungsmittelindustrie, in der harte Arbeit lieber an nahezu rechtlose Migrant*innen oder über Scheinfirmen, die die bestehenden Arbeitsschutzgesetze umgehen, ausgelagert wird anstatt die Arbeitsbedingungen zu verbessern, nimmt an Fahrt auf.

Mit der Pandemie und deren gewaltigen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche sind die Landarbeiter*innen im Zentrum der politischen Debatte Italiens gelandet, spätestens als der Bauernverband Coldiretti meldete, dass aufgrund des Mangels an Arbeitskräften auf den Feldern die für die Nahrungsmittelerzeugungsbranche Italiens so wichtige Frühlingsernte wackelte. Es wurde wochenlang öffentlich debattiert, Arbeitslose oder sogar Rentner*innen auf die Felder zu schicken und massiv für die Einrichtung sogenannter „Green Corridors“ für Saisonarbeiter*innen geworben. Deutschland und Frankreich hatten bereits solche Korridore geöffnet, um Arbeitskräfte aus Osteuropa für die Landwirtschaft einzufliegen. Die radikale Rechte im Lande forderte Arbeit zuerst für Italiener*innen, die Linksliberalen appellierten dagegen an den Universalismus, um den papierlosen Migrant*innen – selbstverständlich nur auf die Erntesaison begrenzt – eine Arbeitserlaubnis zu geben. Die Migrationsgesetze, die de facto zahllose Menschen in die Unsichtbarkeit gezwungen haben, blieben weiter in Kraft. Nichts wurde unternommen, um die miserablen und nicht nur in Pandemiezeiten tödlichen Lebensbedingungen in den Ghettos erträglicher zu machen. Lediglich eine Bescheinigung wurde ausgestellt, die es erlaubte trotz der Ausganssperre auf den Feldern zu arbeiten. Mit Tränen in den Augen begrüßte die Agrarministerin Teresa Bellanova die „Legalisierung“ der Migrant*innen, also die zeitlich begrenzte Arbeitserlaubnis, als eine Chance für die „Unsichtbaren“ zumindest für ein paar Monate in den formellen Arbeitsmarkt aufgenommen zu werden. Kein Wort zu besseren Löhnen und Arbeitsbedingungen, kein Wort zu Schutzmaßnahmen während der Pandemie oder anständigen Unterkünften. Stattdessen die „Legalisierung“ der Migrant*innen begrenzt auf den Zeitraum ihres wirtschaftlichen Nutzens. Selten ist die finstere Logik der herrschenden Klasse so offensichtlich. Trotz Ausgangssperre wuchsen die Proteste gegen diese menschenunwürdige Politik. Es gab Kundgebungen und Solidaritätsaktionen im Norden wie im Süden Italiens und einen Tag lang ließen die streikenden Landarbeit*innen Obst und Gemüse auf den Feldern; bessere Arbeitsbedingungen, adäquate Unterkünfte und bessere Löhne waren ihre Kernforderungen. Jene ganz unten forderten eine Umverteilung des aus ihrer Arbeit produzierten Reichtums. Ein enormer Reichtum, der durch die Monopole in der Verteilung der Produktion subsumiert wird.

In Italien wird für dieses System des modernen Lebensmittelhandels der Begriff „grande distribuzione organizzata“ (GDO)1 verwendet, der organisierte Großhandel. Assoziationen mit der organisierten Kriminalität sind nicht beabsichtigt, aber die mafiösen Strukturen in diesem System sind auch kein Geheimnis. Weit bekannt ist das Phänomen der mafiösen „Arbeitsvermittlung“ durch die sogenannten „caporalato“2. Der Begriff GDO macht ein Kernproblem des Lebensmittelsektors greifbar, welches weit über Italien hinaus gilt: die Marktmacht großer Lebensmittelkonzerne und Supermarktketten, die im globalisierten Wettbewerb Preise drücken, und wie dieser Druck weitergereicht wird bis zum schwächsten Glied der Kette, den oft rechtlosen Tagelöhner*innen auf den Feldern. Die Kette der Ausbeutung verläuft von oben nach unten, die der Wertschöpfung von unten nach oben.

Die Profite der GDO in Italien sind im März 2020, also während des Lockdowns, um 35 % gestiegen, unberührt davon blieb die anhaltende Ausbeutung an beiden Enden der Produktionskette: Die Mitarbeiter*innen der Supermärkte arbeiteten länger und unter höherem Druck, manchmal unzureichend geschützt gegen die Covid-Gefahr; die Landarbeiter*innen arbeiteten nach wie vor viel zu schlecht bezahlt und unter miserablen Arbeitsbedingungen.

Es gibt gute und wichtige Initiativen, diesen gnadenlosen Wettbewerb zu entschärfen, beispielsweise Zertifizierung, die gewisse Standards garantieren soll, was Einsatz von Chemikalien angeht oder die Gewährung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen. Der beständige Wettbewerbsdruck sorgt jedoch dafür, dass der Anteil der Arbeitenden an den erwirtschafteten Gewinnen zugunsten der erwarteten Profite so weit wie möglich zurückgedrängt wird. Die Rahmenbedingungen hierfür werden auf dem ideologischen Fundament des sogenannten Freihandels geschaffen. Dort werden die Rahmenbedingungen einer in den EU- und Weltmarkt integrierten Landwirtschaft gesetzt – in der Regel bedeutet dies, dass Regeln und Standards beseitigt werden. Das Ergebnis wird rhetorisch trickreich als „level playing field“, ein ebenes Spielfeld, präsentiert. Ein Begriff, der aus dem Sport entlehnt ist und faire Voraussetzungen für den Wettbewerb suggerieren soll. Auf den flüchtigen Blick erscheint das Spielfeld zwar eben, aber bei genauerer Betrachtung spielen manche barfuß und hungrig während andere gesättigt und gut ausgerüstet auf dem Spielfeld stehen. Es bedarf, um faire Bedingungen zu schaffen, deshalb mehr als einen weiteren ausgelatschten Turnschuh auf dem Spielfeld, das System des modernen Einzelhandels im integrierten Weltmarkt muss grundlegend erneuert werden.

Ist das Problem erkannt, ist es allerdings noch lange nicht aus der Welt. Dafür braucht es die Betroffenen selbst, nicht andere, die in ihrem Namen sprechen. Die Dialektik der Krisendynamik bietet hier auch Spielraum: Einerseits hat die Pandemie die Ungleichheit verstärkt, andererseits wurde die Frage von Land, Landwirtschaft und vor allem Landarbeit wieder sichtbar. Ein Fenster für soziales und politisches Handeln rund um die Landfrage und vor allem in Bezug auf die sozialen Kämpfe der Landarbeiter*innen hat sich geöffnet, nicht nur in Italien.

Im Zentrum des Ansatzes der Landarbeitersektion der Basisgewerkschaft USB, von deren Arbeit diese Broschüre berichtet, steht die gewerkschaftliche Selbstorganisation. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat durch Bildungsmaßnahmen und Publikationen die Arbeit der USB zur Organisierung der Arbeiter*innen auf den Feldern und in den Ghettos unterstützt. Diese Broschüre, die von einem dieser Gewerkschaftsaktivisten geschrieben wurde, kann im besten Fall auch als Inspiration und Leitfaden für Kämpfe anderenorts genutzt werden. Denn die eingangs von Giuseppe di Vittorio aufgeworfenen Fragen sind aktueller denn je. Und nur in der Organisierung der Landarbeiter*innen finden sich die Antworten. Trotz und wegen Corona also eine äußerst aktuelle Broschüre.

Florian Horn und Federico Tomasone, RLS Brüssel

Über den Autor

Kone Brah Hema ist Gewerkschaftsaktivist und interkultureller Mediator in einem Aufnahmezentrum für Asylsuchende in Turin. Er ist zudem aktiv in der Organisation CISPM Italien (Coalizione Internazionale Sans-Papiers e Migranti – Internationale Koalition der Sans-Papiers und Migrant*innen), die sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit für alle Bürger*innen und Migrant*innen in Italien fordert.

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