Louise Schmidt, RLS Brussels

Veranstaltungsbericht: Für eine tatsächliche Verkehrswende

Manuela Kropp

Radfahren, zu Fuß gehen und der ÖPNV während der Pandemie und in Zeiten der steigenden Lebenshaltungskosten

Veranstaltungsbericht – Öffentliche Podiumsdiskussion am 1. Oktober 2022 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel

Hier der Link zum vollen Programm: https://www.rosalux.eu/en/topic/23.events.html?id=1290

 

 

 

 

Es sprachen:

Ludwig Lindner von der Initiative Berlin Autofrei, Berlin (Deutschland)

Zoran Bukvic von der Initiative Streets for cyclists, Belgrad (Serbien)

Leila Lahssaini, Abgeordnete der Partei belgischen Linkspartei PTB in Brüssel (Belgien)

– Cristina Tilling, Europäische Förderation der Transportarbeiter (European Transport Workers‘ Federation ETF) (musste leider kurzfristig absagen)

Während der Corona-Pandemie ist deutlich geworden, welche Beschäftigten unsere Gesellschaft wirklich am Laufen halten – zum Beispiel die Beschäftigten im ÖPNV. In der Pandemie hat sich auch gezeigt, wie schnell die Infrastruktur für Radfahrer*innen auf lokaler Ebene ausgebaut werden kann, wenn der politische Wille da ist – durch die sog. Pop-Up-Radwege. Die sich verschärfende Klimakrise, der Krieg in der Ukraine und die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten zeigen: Wir brauchen bezahlbare und ökologische Mobilität für alle, in unseren Städten und auf dem Land: mit viel mehr Radfahren, zu Fuß gehen und öffentlichem Verkehr – um soziale Teilhabe für alle Menschen zu ermöglichen und Klimagerechtigkeit im Verkehrssektor zu erreichen. Die Stadt Brüssel zeigt, wie dem Rad- und Fußverkehr Vorrang eingeräumt werden kann und wie nach und nach einzelne Stadtteile lebenswerter werden. Allerdings zeigt das Beispiel Brüssel auch, wie wichtig es ist, alle Menschen in die Pläne mit einzubeziehen und nicht über ihre Köpfe hinweg zu entscheiden. Es hat sich in einigen Stadtteilen Brüssels Protest gegen die verkehrsberuhigenden Maßnahmen erhoben, denn die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen dort wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Denn viele Beschäftigte sind auch schlicht auf ihr Auto angewiesen, aufgrund mangelnder Alternativen, aufgrund von Schichtarbeit, oder aufgrund der Tatsache, dass der Arbeitsplatz in einer Gegend liegt, wo es keinen ÖPNV gibt. Auch in Belgrad zeigt sich die soziale Dimension: Dort werden derzeit Linien des öffentlichen Nahverkehrs umgebaut, um reiche Teile der Stadt zu begünstigen und andere Teile buchstäblich abzuschneiden. Hier stellt sich die soziale Frage ebenfalls, die das Herzstück einer solidarischen Mobilitätswende sein muss.

Ludwig Lindner (Berlin Autofrei) legte in seinem Redebeitrag dar, wie die Initiative „Berlin autofrei“ 2018 Jurist*innen hinzugezogen hatte, um ein Gesetz für eine Berliner Innenstadt mit weniger Autoverkehr zu schreiben. 2021 lag dieser Gesetzentwurf vor und über 200 Aktivist*innen machten sich daran, Unterschriften zu sammeln – ganze 50.000 an der Zahl. Momentan liegt der Vorgang beim Landesverfassungsgericht, das klären soll, ob das Volksbegehren der Initiative zulässig ist – falls ja, kann die zweite Phase des Unterschriftensammelns für ein Volksbegehren beginnen. Die Verkehrswendeaktivist*innen hoffen, dass dann im Jahr 2024 ein Referendum stattfinden kann. Ziel ihrer Initiative ist, in Berlin die größte verkehrsberuhigte Zone der Welt zu schaffen – Lieferverkehre und Verkehr zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge wären weiterhin zugelassen, aber alle anderen Autos bräuchten dann eine Erlaubnis, um in die Innenstadt zu fahren. Bei Umfragen sagen 40 Prozent der Befragten, dass sie sich eine verkehrsberuhigte Innenstadt in Berlin wünschen. Ludwig Lindner betonte außerdem die soziale Dimension ihrer Initiative: wenn die Zahl der Autos um 60 Prozent bis 80 Prozent sinken würde, könne viel öffentlicher Raum umgewidmet werden, der dann von allen Menschen in der Stadt fürs Spazierengehen, für Spielplätze und zum Verweilen zur Verfügung steht. Die Initiative ziele darauf zu zeigen, dass die Verkehrswende auch ohne große Infrastrukturprojekte funktioniert – indem die Menschen die Stadt für sich neu entdecken. Letzten Endes gehe es um Flächengerechtigkeit, und zwar um die gerechte Verteilung von öffentlichen Flächen. Für eine gelungene Verkehrswende müssten folgende drei Dinge zeitgleich geschehen: Investitionen in den ÖPNV, den ÖPNV bezahlbar für Alle gestalten, und die Reduktion der Zahl der Autos in der Stadt.

Zoran Bukvic (Streets for Cyclists, Belgrad) beschrieb, wie sich die Zahl der Autos in den letzten Jahren in Belgrad verdoppelt hat. Belgrad ist die Stadt mit der größten Luftverschmutzung weltweit und müsse daher dringend umsteuern in Richtung eines gut ausgebauten ÖPNV. Die Hälfte der Menschen, die in Belgrad leben, sind auf den ÖPNV angewiesen, weil sie sich schlicht kein Auto leisten können. Und es sei der Effekt zu beobachten: sobald das Einkommen der Menschen steigt, steigt auch die Neigung, sich einen privaten PKW zuzulegen. Die Stadtregierung hat in den letzten Jahren den Boden im Stadtzentrum an Investoren verkauft, die in teure Eigentumswohnungen und Bürogebäude investieren. Es ist klar, dass die zukünftigen Bewohner*innen der Innenstadt dann eher aufs Auto und weniger auf den ÖPNV setzen werden. Noch 2011 habe es Pläne für den Bau einer U-Bahn gegeben, die nicht durchs Stadtzentrum verlaufen wäre, sondern die Außenbezirke angebunden hätte. Doch nun, angesichts der geplanten teuren Investitionen in der Innenstadt haben sich die Pläne für den Streckenverlauf geändert und die U-Bahn wird direkt die Innenstadt anbinden. Die Zahlen der Bedarfsplanung für diese U-Bahn waren stark übertrieben: angeblich würden 200.000 Passagiere diese U-Bahn nutzen, was aber von Seiten der Verkehrswendeaktivist*innen angezweifelt wird. Ebenfalls zu bemängeln ist, dass eine Bahnstation um drei Kilometer verlegt wurde, raus aus der Innenstadt. Dies geschehe, um den Bau der teuren und CO2-intensiven U-Bahn zu rechtfertigen. Es werden Mehrkosten von 2,6 Millionen Euro anfallen, denn der Bau einer U-Bahn ist wesentlich kostspieliger als der Bau einer oberirdischen S-Bahn. Außerdem könnten dann die „freiwerdenden Flächen“ für weitere kostspielige Bauvorhaben herhalten. Bevor die Pläne der Investoren ins Spiel kamen, hatte es ein gut integriertes S-Bahnsystem gegeben, in dem auch die Vorstadtbezirke angebunden waren. Doch nun sind die innerstädtischen Bahnlinien nicht mehr mit den Linien aus den Vorstadtbezirken integriert. Hinzu kommt, dass durch den Bau der U-Bahn die Wasserreservoirs der Stadt bedroht würden. Abschließend kritisierte Zoran Bukvic auch die mangelnde demokratische Beteiligung: bei der veränderten Verkehrsplanung seien die Bürger*innen der Stadt nicht einbezogen worden.

Die lokale Abgeordnete der belgischen Linkspartei PTB, Leila Lahssaini, betonte in ihrem Beitrag, dass die Region Brüssel eine der reichsten Regionen Europas ist, aber hier andererseits auch viele Menschen aus der Arbeiterklasse mit kleinen Einkommen leben. Die Stadt sei daher sozial sehr gemischt, auch wenn in den letzten 20 Jahren die Gentrifizierung stark vorangeschritten sei. In der Stadtgesellschaft sei ein steigender Druck spürbar – immer mehr Menschen fühlten sich wenig willkommen in der Innenstadt. Bspw. gäbe es für die junge Generation immer weniger die Möglichkeit, Wohnraum käuflich zu erwerben. Dazu sei Brüssel eine Pendlerstadt, denn immer mehr Menschen müssten an den Stadtrand oder aufs Land ziehen, aufgrund der steigenden Mieten. Jeden Tag pendeln 350.000 Menschen in die Stadt hinein, und dies führe natürlich zu einer starken Luftverschmutzung. In den 70er und 80er Jahren sind nur geringe Investitionen in den ÖPNV vorgenommen worden, und die Folgen seien heute noch spürbar. Über die Jahre hätte die Bevölkerungszahl zugenommen, aber der ÖPNV sei nicht „mitgewachsen“. Eine Schnellzugverbindung zur Anbindung des ländlichen Raums hätte bereits vor zehn Jahren gebaut werden müssen. Es sei völlig klar, dass eine solidarische Mobilitätswende nur mit einem starken Ausbau des ÖPNV und des Nulltarif für den ÖPNV erreicht werden könne. Das Beispiel aus Deutschland, das 9-Euro-Ticket (das im Sommer 2022 für drei Monate eingeführt worden war), zeige: es ist möglich, Menschen zum Umstieg vom Auto in den ÖPNV zu bewegen. Aber dafür müssten natürlich die infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden, ebenso, wie gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten beim ÖPNV und der Bahn. Im Moment finde in Brüssel ein sog. „Klassenkampf“ (class struggle) um die Mobilitätswende statt: einerseits würden Radwege ausgebaut und das sei auch zu begrüßen. Andererseits würden aber auch sozial ungerechte Maßnahmen ergriffen: alten Autos sei der Zugang zur Innenstadt zunehmend verwehrt. Jedoch fehle vielen Menschen schlicht das Geld, sich ein neues Auto zuzulegen. Die aktuelle Inflation verschärfe noch einmal den Druck auf die Geldbeutel der Menschen. In den letzten Wochen kam es in Brüssel in einigen Arbeiterbezirken zu Protesten gegen den Verkehrsplan der Stadtregierung. Denn die Menschen fühlten sich zunehmend in ihren Bezirken eingeschlossen. Dabei sei es doch so wichtig, eine Umweltpolitik zu verfolgen, die die Menschen mitnähme. Die PTB geht in den Bezirken gezielt auf die Menschen zu und fragt nach ihren Bedürfnissen, damit die solidarische Mobilitätswende gelingen kann.

Manuela Kropp ist Projektmanagerin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel für den Bereich Sozial-ökologischer Umbau