Der Vorsitzende der Bürgerkoalition Donald Tusk spricht am Abend der Parlamentswahlen in Polen Oktober 15, 2023, Warschau.
Der Vorsitzende der Bürgerkoalition Donald Tusk spricht am Abend der Parlamentswahlen in Polen Oktober 15, 2023, Warschau.IMAGO / ZUMA Wire

Parlamentswahlen in Polen: eine erste Einschätzung

Ein Regierungswechsel in Polen ist mehr als wahrscheinlich. Auch wenn das amtliche Endergebnis erst in den nächsten Tagen feststehen wird, scheint es sicher, dass die Parteien der sogenannten «demokratischen Opposition» gemeinsam eine Mehrheit der Sitze im Sejm, dem polnischen Parlament, erreicht haben. Zwar wurde die Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) zum dritten Mal stärkste Partei, hat aber die absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Auch gemeinsam mit der ultraneoliberalen und ultrarechten «Konföderation» kann sie keine Mehrheit erreichen.

 

Triumph der Demokratie

Die Wahlbeteiligung von 72,9 Prozent liegt deutlich höher als sonst bei Parlamentswahlen in Polen üblich. Selbst bei der Wahl im Jahr 1989 lag sie nur bei 62,7 Prozent. Allein das bedeutet einen Triumph der Demokratie in Polen. Die Zeit der politischen Frustration vieler Wähler*innen ist überwunden. Es scheint insbesondere den demokratischen Oppositionsparteien gelungen zu sein, ehemalige Nichtwähler*innen zur Wahlbeteiligung zu mobilisieren, nicht zuletzt durch zwei Großdemonstrationen, an denen über eine Million Menschen teilgenommen haben.

 

«Recht und Gerechtigkeit»

Die bisher regierende PiS wurde mit 36,6 Prozent erneut stärkste Partei. Mit 198 Sitzen erreicht sie jedoch nicht annähernd die erforderliche Mehrheit von 231 Sitzen. Angesichts ihrer Hilflosigkeit während der Inflation von bis zu 18 Prozent, der steigenden  Lebenshaltungskosten und niedrigen Einkommen, scheint ihr Versprechen weiterer Sozialleistungen nicht verfangen zu haben, mit dem sie vergangene Wahlen gewonnen hat. Zwar hat sie nach wie vor eine große Stammwählerschaft, die sie mit nationalistischen Parolen, mit Propaganda gegen Deutschland und neuerdings auch gegen die Ukraine sowie dem Eintreten für ein äußerst reaktionäres Familien- und Frauenbild dauerhaft an sich binden kann. Jedoch reicht dies angesichts der umfassenden sozialen Krise für eine Mehrheit nicht mehr aus. Ihre Hochburgen hat die PiS im Osten Polens und in den ländlichen Regionen, während die demokratische Opposition ihren Schwerpunkt im Westen und in den großen Städten hat.

 

Demokratische Opposition

Die größte demokratische Oppositionspartei, die liberale «Bürgerkoalition» (KO), gewann 31,0 Prozent und 161 Sitze. Durch einen deutlichen programmatischen Richtungswechsel hin zu mehr sozialen Rechten und zur Stärkung der Rechte von Frauen, Migrant*innen und queeren Menschen ist es ihr scheinbar gelungen, ihr neoliberales Image abzustreifen. Die KO hatte in vergangenen Regierungen drastische Sozialkürzungen, wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters, durchgesetzt und damit das Vertrauen vieler Wähler*innen für lange Zeit verloren. Inwieweit dieser soziale Kurswechsel während des Wahlkampfs auch in der Regierungsverantwortung zum Tragen kommt, bleibt abzuwarten.

Überraschend war das Ergebnis des Mitte-Rechts-Parteienbündnisses «Dritter Weg» aus der «Polnischen Bauernpartei» und dem liberalen «Polen 2050», das mit 13,5 Prozent deutlich über den Wahlumfragen und über der für Parteienbündnisse gültigen 8-Prozent-Hürde liegt. Nach den letzten Wahlumfragen war befürchtet worden, dass ein Regierungswechsel daran scheitern könnte, dass der Dritte Weg diese Hürde verfehlt. Es scheint das Kalkül aufgegangen zu sein, durch das Angebot einer gemäßigt konservativen Alternative zu PiS vielen Wähler*innen die Stimmabgabe für die demokratische Opposition zu ermöglichen.

Enttäuschend ist hingegen das Wahlergebnis des dritten potentiellen Regierungspartners, der «Linken», einem Bündnis im Wesentlichen aus der sozialdemokratischen «Neuen Linken» und der weiter linksstehenden Partei «Zusammen». Mit 8,6 Prozent und 30 Parlamentssitzen bleibt sie deutlich unter dem Ergebnis von 2019 mit 12,6 Prozent. Allein schon, dass sie es im Wahlkampf erreicht hat, die Forderungen der anderen beiden demokratischen Oppositionsparteien in Richtung der Stärkung sozialer Rechte zu verschieben, kann jedoch als Erfolg gewertet werden. Es ist zu hoffen, dass es der Linken gelingen wird, trotz ihres schlechten Wahlergebnisses soziale Rechte und Menschenrechte bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen durchzusetzen. Denn immerhin ist ohne die Linke eine Regierungsbildung durch die bisherige demokratische Opposition nicht möglich.

Trotz sehr vielversprechender Umfragen im Sommer 2023 von bis zu 17 Prozent erreichte die extrem rechte und neoliberale «Konföderation» nur 6,4 Prozent, was ihrem letzten Wahlergebnis entspricht. Sie fällt damit als Mehrheitsbeschafferin einer erneuten PiS-Regierung aus, was zugleich die Gefahr eines weiteren Rechtsrucks der Regierungspolitik in Polen verhindert.

 

Polen bleibt politisch zutiefst gespalten

Detaillierte Wahlumfragen zeigen, dass sich die Spaltung Polens noch vertieft hat. PiS ist überwiegend die Partei der polnischen Provinz, der Geringverdiener*innen und der Mehrheit der Rentner*innen. Die demokratische Opposition ist in Großstädten, bei Hochschulabsolventen und in den besser verdienenden Teilen der Gesellschaft am beliebtesten. Junge Menschen, die in Rekordzahl an dieser Wahl teilgenommen haben, stimmen größtenteils nicht für «Recht und Gerechtigkeit», aber es gibt einen bemerkenswerten Teil junger männlicher Wähler, die die Konföderation unterstützen. Wie bei den vorherigen Wahlen tendierten die nördlichen und westlichen Regionen Polens stark zu Mitte- und Linksparteien, während die südlichen und östlichen Regionen traditionell für Konservative stimmten.

 

Regierungsbildung

Im Moment scheint es nicht realistisch, dass es irgendeine Mehrheit außer der aus der Bürgerkoalition, dem Dritten Weg und der Linken geben könnte. Alle Augen sind jetzt auf Präsident Andrzej Duda gerichtet. Gemäß der polnischen Verfassung ist er es, der den Ministerpräsidenten ernennt, der dann ein Vertrauensvotum der Mehrheit des Parlaments erhalten muss. Duda deutete bereits an, dass «es Tradition ist», dass der Präsident eine*n Politiker*in der stärksten Partei nominiert. Allerdings weisen viele Politiker*innen und Kommentator*innen zu Recht darauf hin, dass die Nominierung von jemandem, der keine Aussicht auf die Bildung einer Regierungsmehrheit hat, wenig Sinn macht und die Bildung eines neuen Kabinetts nur in die Länge ziehen wird. Erhält der/die Kandidat*in des Präsidenten kein Vertrauensvotum, wird die Initiative direkt an das Parlament weitergeleitet. In diesem Fall würde voraussichtlich eine neue Regierung aus der Bürgerkoalition, dem Dritten Weg und der Linken gebildet, wahrscheinlich unter der Führung des Vorsitzenden der Bürgerkoalition, Donald Tusk. Das würde bedeuten, dass die Regierungsbildung erst im Dezember erfolgt. Präsident Duda gilt als treuer Anhänger des PiS-Vorsitzenden Kaczyński. Es wäre nicht überraschend, wenn er alles tun würde, um den Machtwechsel so lange wie möglich zu verzögern.

 

Entscheidende Themen des Wahlkampfs

Der Wahlkampf war der verbal brutalste in der modernen Geschichte Polens. Er war geprägt von der tiefen sozioökonomischen Krise, in der Polen steckt. So ist die Inflation in Polen erst kürzlich auf etwas unter 10 Prozent gesunken. Die Regierung versuchte ihr Engagement für die Menschen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten unter Beweis zu stellen, etwa durch die Anhebung des Kindergeldes, durch Zusatzrenten oder durch Interventionen des staatlichen Kraftstoffkonzerns Orlen auf dem Kraftstoffmarkt. Nichts davon erwies sich als Game Changer im Wahlkampf, anders als bei der vorherigen Wahl, als Versprechen im sozialpolitischen Bereich der PiS zum Sieg verhalfen. Denn viele sozialen Probleme ließ die PiS-Regierung unbeantwortet: die extrem niedrigen Gehälter im öffentlichen Dienst, die katastrophale Wohnungssituation, die Unterfinanzierung des Gesundheits- und Schulsystems und vieles mehr.

Das Thema Migration spielte insbesondere in der Schlussphase des Wahlkampfs eine wichtige Rolle. Mit einer aggressiven Kampagne gegen Geflüchtete stellte sich die Regierungspartei PiS als einzige Garantie für die nationale Sicherheit Polens in einem sehr chaotischen und instabilen internationalen Umfeld dar und beschuldigte die Opposition, die Ansiedlung Hunderttausender Migrant*innen in Polen zu planen.

PiS stellte ihre gesamte Außenpolitik in den Dienst ihres Wahlkampfs. Dies führte zu feindseligen Gesten nicht nur gegenüber der EU und Deutschland, sondern auch gegenüber der Ukraine. Bis zum Sommer 2023 gehörte Polen zu den stärksten Befürwortern Kiews auf internationaler Ebene. Dies änderte sich mit der Getreideimportkrise zwischen der EU und der Ukraine. Polnische Bauern organisierten Proteste gegen die Politik der polnischen Regierung, die den Import und Verkauf von ukrainischem Getreide auf dem polnischen Markt erlaubte. PiS befürchtete, dass dies verheerende Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben würde, und verbot den Getreideimport, was die Beziehungen zu Kiew verschlechterte.

Die Rechte von Frauen, nicht nur in Bezug auf Abtreibung, sondern auch in Bezug auf ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt, waren ein Thema, das von der demokratischen Opposition, insbesondere der Bürgerkoalition und der Linken, stark betont wurde. LGBT+-Themen waren nicht so prominent wie in den vergangenen Kampagnen.

 

Auf die Linke kommt es an

Viel hängt nun davon ab, welche Rolle die Linke in der neuen Regierung spielen will und kann. Eine Konsensfindung zwischen den sehr unterschiedlichen künftigen Regierungskoalitionspartnern wird nicht einfach sein, denn es gibt in Bürgerplattform und Polen 2050 viele Vertreter*innen kulturkonservativer und neoliberaler Positionen. Da Andrzej Duda bis 2025 Präsident sein wird, werden viele Reformversuche durch sein Veto vereitelt werden, weil das Parlament ihn nur mit einer 3/5-Mehrheit überstimmen kann. So wird es schwierig bis unmöglich sein, fortschrittlichen Versprechen einzulösen, insbesondere im Hinblick auf Frauen- und Queerrechte. Wenn es der Linken gelingt, die Mobilisierung der Gesellschaft gemeinsam mit Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und Initiativen aufrechtzuerhalten, kann sie einen prägenden Einfluss auf die Regierungspolitik gewinnen. Andernfalls wird ihr Einfluss zugunsten der Bürgerkoalition schwinden.

 

Stand: 16. Oktober: Zahlen des Exit-Polls vom 15. Oktober, 21 Uhr

Achim Kessler leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau.